bist du etwa ein mädchen?

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Dienstag, 23. September 2014

Lesestoff für Eltern: Die Geschlechterlüge

 titel: Delusions of Gender. The Real Science behind Sex Differences, zu deutsch: Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann
autorin: Cordelia Fine
verlag: W.W. Norton& Company, London& New York 2010, bzw. Klett Cotta, Stuttgard 2012
isbn: 978-3-608-94735-9

Fine beschäftigt sich in diesem 476 seiten starken wälzer mit der populärwissenschaftlichen verarbeitung von gehirnforschungsprojekten. in mühseliger kleinarbeit recherchierte die autorin die quellen, die zur untermauerung der starren thesen von den natürlich-biologischen geschlechtsunterschieden zwischen frau und mann herangezogen wurden und stellte dabei überrascht fest, wie oft grobe fahrlässigkeit und sogar vorannahmengeleitete bevorzugung bestimmter ergebnisse gegenüber anderen für eine eklatante falschinterpretation der hinzugezogenen neurowissenschaftlichen studien sorgen, mitunter sehr zum leidwesen der urhebenden forscher_innen. die geflügelte wortart: "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast", erhält somit eine völlig neue dimension.

an einigen wenigen stellen, besonders im ersten drittel, hatte ich beim lesen schwierigkeiten, den argumentationen fine's zu folgen, was ohne frage auch am stoff lag: als kulturwissenschaftlerin gehe ich frei nach Haraway als feministische laiein gerne das wagnis ein, mich mit texten zu beschäftigen, deren begriffliches universum ich mir erst noch erschließen muss. vielleicht kommt noch hinzu, dass einerseits quellenintrepretation, auch und gerade, wenn es um statistiken geht, immer eine 'verschwurbelte' sache ist, andererseits genauso das thema des buchs: wie wird geschlecht hergestellt? ein undurchdringliches dickicht an biologischen, kulturellen, sozialen und individuellen verflechtungen darstellt.

die für mich wichtigsten, prägensten und in gewisser weise auch zündblitze erzeugenden erkenntnisse waren folgende:

kinder geschlechtsneutral erziehen zu wollen, ist sinnlos. (darauf weisen auch die wundervollen Kathy& David von rebelparenting hin, die alternativ lieber den ansatz des justice engaged parenting verfolgen. ich bevorzuge im deutschen den terminus gendersensible elternschaft.) Fine legt überzeugend dar, wie selbst menschen, die sich für die 'hippsten und neutralsten eltern aller zeiten' halten, in entsprechenden studien unbewusst stereotyp auf die geschlechtliche zuordnung ihrer feten(!) und neugeborenen reagiert haben. der elternbias, beeinflusst u.a. durch die eigene sozialisation, ist nicht einfach abzuschalten. nur konstante reflexion der eigenen überzeugungen und handlungen ist möglich. hinzu kommt, dass einige studien darauf hinweisen, dass eltern zwar einen anteil an der herstellung des wertehorizontes ihrer nachkommen haben, das sie aber bei gender-nicht-konformem verhalten von den eigenen kindern auch ganz schnell als abweichend von der norm klassifiziert werden. entscheidet der nachwuchs nun, dass er leiber dazugehören will, als gendergerecht zu sein, haben die eltern manchmal weniger einflussmöglichkeiten, als das weitere soziale umfeld.

und kinder suchen die soziale integration. als soziale wesen suchen wir menschen nach gruppen, zu denen wir gehören, in denen wir uns sicher fühlen (können). soziale gruppierungen bieten orientierung und sicherheit und die sozialen normen, die sie erzeugen, ebenfalls. die von fine analysierten studien deuten an, dass gerade menschen im alter von 5-7 jahren eine besonders rigide umsetzung der von ihnen beobachteten normativen kategorisierungen einfordern. als eine der wenigen kategorien, die ihnen einfach so, ohne weiteres zutun, von anfang an zugeschrieben wird, ist geschlecht für sie unmittelbar verfügbar und als identifikationsmöglichkeit vermutlich unschätzbar wichtig. ein kleiner trostpflaster für mein elternherz: nach dem 7. lebensjahr scheinen differenziertere kategorien für die identitätsbildung an bedeutung zu gewinnen, z.b. gut klettern zu können, oder gut malen zu können. aber: auch solche kategorien sind geschlechtsbezogen und welche kategorien in anspruch genommen werden, ist gebunden an die eigene, zuvor ausgebildete geschlechtsidentität.

um die in vielen untersuchungen festgestellten tendenzen zu genderkonformität selbst bei säuglingen zwischen sechs und zwölf monaten zu erklären, habe einige forscher_innen eine spannende these aufgestellt, die die wirklichkeit genderstereotypen verhaltens berücksichtigt, ohne aus den augen zu verlieren, dass gender ein 'geschwurbel' an diversen einflussfaktoren darstellt, die alle zusammen an der herstellung von geschlecht mitwirken, ohne jemals universell und überzeitlich fixiert zu sein: die wissenschaftler_innen vermuten, dass kinder, selbst babys, darauf reagieren, was andere menschen, die sie als geschlechts- genoss_innen identifizieren, tun, wie sie aussehen und sich verhalten und womit sie sich beschäftigen. außerdem reagieren sie auf positive ermutigungen ihrer bezugspersonen (erhöhte und längere aufmerksamkeit, lächeln, berühren, zuwendung). die identifikation von geschlechtsgenoss_innen folge dabei vermutlich 'biologischen mustern', wie bspw. der hormonellen ausstattung. es ist ein anpassungsmechanismus, der durch konformes verhalten dazugehörigkeit, und damit ganz einfach das überleben sichern soll. an der anpassungsfähigkeit der spezies mensch ist nach heutigem kenntnisstand schwer zu zweifeln, darum erscheint diese these so simpel, wie auch raffiniert. nun könnten sich einige aufmerksame leser_innen fragen, was dass denn nun für einen unterschied macht, wie genau der vorgang der anpassung an geschlechtliche normen von statten geht, wenn sie - die menschen - doch schon wieder auf der grundlage ihres 'biologischen geschlechts' reagieren. wozu die erbsenzählerei? weil es einen unterschied macht, ob mutti mich wickelt oder vati. der unterschied liegt in der handlungsmöglichkeit, die sich durch diesen ansatz offenbart: aus jungen-babies können prima väter werden, wenn sie von ihren vätern gelernt haben, dass es 'männlich' ist, sich um die kinderpflege zu kümmern. und aus mädchen-babies können theoretische physikerinnen werden, wenn sie von ihren müttern gelernt haben, dass das ihrer weiblichen natur entspricht.

wie aber verhält es sich mit den 1-5 auf 500 geburten, bei denen menschen zur welt kommen, deren geschlechtsmerkmale nicht eindeutig einem sogenannten männlichen oder weiblichen geschlecht zuordenbar sind? auf welcher grundlage passen diese babies sich den erwartungen an, die an sie gerichtet werden, weil irgendeine instanz, zumeist eine ärztliche festgelegt hat, welches geschlecht sie denn nun 'eigentlich' hätten? oder was macht es mit ihnen, wenn sie sich aus irgendeinem grund nicht als fähig erweisen, sich den an sie addressierten normen entsprechend zu verhalten? und wie müsste eine welt aussehen, in der alle menschen nicht jenseits, sondern gerade mit ihrer jeweiligen spezifischen biologischen ausstattung in eine gemeinschaft integriert werden, in der sie sich individuell entfalten können und gleichzeitig geborgen und sicher fühlen?

fazit: wir sind psychisch und physisch extrem anpassungsfähig. (wie das genau mit der physischen anpassungsfähigkeit geht, erklären u.a. neurowissenschaftler_innen heute mit dem spannenden konzept der neuroplastizität). alles ist möglich. aber andere denkmuster sind auch nötig, um den möglichkeiten unserer biologien gerecht zu werden.

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